1. Zusammenfassung

Politik, Behörden und Gerichte orientieren sich bei den Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 an den Daten des Robert Koch Institutes, die den bisherigen Verlauf des pandemischen Geschehens für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland beschreiben.

Zu Beginn der Pandemie wurde erkennbar, dass die Auswertungen des RKI dem Geschehen erheblich hinterherhinken und die Infektionswelle anders verlief, als vom RKI vermutet. Mit der „Nowcast“ Methode sollte das Problem ab Ende April 2020 weitgehend behoben sein.  Im Zusammenhang mit der Einführung des Epidemie-Managementsystems „Sormas“ für den Datenaustausch zwischen lokalen und regionalen Behörden und dem RKI wird über erhebliche Defizite berichtet. Einzelne Ereignisse und deren Relevanz für die Verfälschung der Statistik, wie die fehlende Meldung von 3.500 Fälle aus Baden-Württemberg am 16.12.2020, erscheinen zwar als Warnhinweis im dashboard des RKI selbst. Die Dauer des Übermittlungsverzugs und die Relevanz für die Beschreibung des Infektionsgeschehens insgesamt ist aber unklar.

Tatsächlich lässt der Vergleich der Daten aus den täglichen Lageberichten des RKI mit den gleichfalls veröffentlichten Rohdaten vermuten, dass die täglichen Lageberichte des RKI über das Geschehen der letzten 24 Stunden ein sehr stark verzerrtes Lagebild darstellen. Insbesondere die Zahl der an und mit Covid-19 verstorbenen Patienten innerhalb der letzten 24 Stunden ist ausgesprochen unzuverlässig.

Das Problem ist mit Übermittlungsverzug nur unzureichend beschrieben. Das RKI selbst teilt auf Anfrage mit, dass es über eine Auswertung des Grades der Abweichung zwischen Referenzdatum, Meldedatum und Bearbeitungsdatum beim RKI oder der durchschnittlichen Dauer der Meldeverzögerung nicht verfügt, so dass aus den berichteten Zahlen noch nicht einmal eine valide Schätzung der tatsächlichen Entwicklung abgeleitet werden kann. Eingang in den Täglichen Lagebericht finden anscheinend nur jene „neuen Fälle“, bei denen das Bearbeitungsdatum beim RKI dem des Vortages entspricht, also weder Referenzdatum noch Meldedatum.

Das RKI berichtete z.B. im täglichen Lagebericht vom 16.12.2020 fast 1.000 neu gemeldete Verstorbene im Vergleich zum Vortag. Mit dem Datenstand vom 16.12.2020 konnten aber tatsächlich nur wenige Sterbefälle den zurückliegenden 24 Stunden zugeordnet werden. Auch Schätzungsgrundlagen lassen keinen Schluss darauf zu, dass tatsächlich am 15.12.2020 fast 1.000 Menschen in Deutschland an und mit Covid-19 verstorben seien.

Fälschlicherweise gehen die Daten dennoch als „fast 1.000 neue Tote in den letzten 24 Stunden“ nicht nur in die Berichterstattung der Medien, sondern auch als Rechtfertigung staatlichen Handelns in die Stellungnahmen der Politiker und Politikerinnen ein.

( Ergänzung vom 21.1.2021: Der Mediziner und Soziologe Bertram Häussler ist Leiter des unabhängigen GesundheitsforschungsinstitutsIGES in Berlin. Sein Team erstellt seit August 2020 den sogenannten Pandemie-Monitor, der wissenschaftliche Analysen rund um das Infektionsgeschehen mit Covid-19 liefert. Seine Untersuchung hat die erhebliche Abweichung der Zahl der Verstorbenen der letzten 24 Stunden gegenüber dem tatsächlich bekannten Fällen bestätigt

https://www.welt.de/politik/deutschland/plus224618085/Corona-Uns-droht-ein-Mega-Lockdown-auf-Basis-unbrauchbarer-Zahlen.html)

Auch die Abweichung der „Neuinfektionen“ ist erheblich. Für den 16.12.2020 meldet das RKI 26.923 Fälle, tatsächlich können dem Datum nur 13.630 Neuinfektionen zugeordnet werden. Die höchste Zahl der Neuinfektionen meldete das RKI im Dezember bisher am 11.12.2020 für den 10.12.2020 mit 29.875 Neuinfektionen, tatsächlich können dem Tag nach dem Datenstand 17.12.2020 nur 24.2422 Neuinfektionen zugeordnet werden.

Die Abweichung in der 7 Tage Inzidenz ist erheblich. Das RKI berichtete mit Datenstand 17.12.2020 eine 7 Tage Inzidenz von 179 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. Tatsächlich betrug sie 145,2 Neuinfektionen/100.000 Einwohner.

Das RKI lehnte eine Stellungnahme zu dieser Auswertung ab.

Sofern diese Auswertungen in die Berechnungen der Inzidenz „Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen“ und andere Indizes im Zusammenhang mit der Epidemie eingehen, die zum Teil als Eingriffsschwellen im IfSG vorgesehen sind, sind sie im Moment ihrer Anwendung rechtswidrig. Sie geben tatsächlich nicht im Sinne des IfSG die Neuinfektionen der letzten 7 Tage wieder, sondern Neuinfektionen innerhalb eines Zeitraums, den das RKI selbst nicht bestimmen kann.

Die unbestimmte Dauer der zwischen Entnahme der Probe, Testung im Labor, Mitteilung des Ergebnisses an das Gesundheitsamt, Bearbeitung der Ergebnisdaten im Gesundheitsamt vor Ort, Weitergabe der Daten in der amtlichen Meldekette bis hin zur Bearbeitung der Daten beim RKI und der Umstand, dass die Zahl der positiven Teste in erster Linie abhängig ist von der Zahl der durchgeführten Tests und die zugrunde liegende Teststrategie, machen die 7 Tage Inzidenz als sachgerechtes Unterscheidungskriterium schlechthin untauglich und damit rechtswidrig.

Wir gewöhnen uns an die versteckten Hinweise des RKI über die reduzierte Aussagekraft der Zahlen an Wochenenden und Feiertagen, sind uns aber der Konsequenzen nicht bewusst. Die 7 Tage Inzidenz entscheidet über die Rechtmäßigkeit von Eingriffen in grundrechtlich geschützte Freiheiten, über das epidemische Geschehen im internationalen Vergleich, über Einreisebeschränkungen, genauso wie über Zuzahlungen nach § 21 Krankenhausfinanzierungsgesetz u.v.m. und ist tatsächlich nicht mehr als ein Illusion. Das ist der sichtbarste Hinweis, dass das Robert Koch Institut auch nach 10 Monaten, in denen der Bevölkerung viel zur Bekämpfung von Covid-19 zugemutet wurde, selbst das 1 mal 1 der epidemiologischen Surveillance noch nicht beherrscht.

Das Problem war in seinem Kern bekannt, in seinen Auswirkungen offensichtlich nicht. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Deutsche Bundestag die 7 Tage Inzidenz als Tatbestandsmerkmal in viele Gesetze hineingeschrieben hat, ohne zu bemerken, dass keines dieser Gesetze rechtssicher umgesetzt werden kann, solange das RKI und das gesamte Gesundheitswesen das reporting nicht grundlegend verändert.

Ob diese Daten auch in epidemiologische Modellierungen eingehen und ergebnisverfälschend wirken, konnte der Autor nicht klären. Die Auswertungen am Tag der Veröffentlichung ergeben ein sehr stark verfälschtes Bild der Epidemie, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass Trendwenden – sowohl bei Anstieg, aber auch bei Abstieg der Fallzahlen – zu spät erkannt werden und darauf reagierende Entscheidungen im Verhältnis zum tatsächlichen Geschehen unangemessen sind.

Nach der hier vertretenen Auffassung besteht zudem eine rechtliche Verpflichtung des RKI zur systematischen Erhebung und Auswertung der bei den PCR Test gewonnen Ct Werte, abgekürzt für engl. cycle threshold zur näherungsweisen Bemessung der Infektiösität der Patienten und der Ausbreitungswahrscheinlichkeit der Epidemie. Dieser Pflicht kommt bisher weder das IfSG noch das RKI nach. Stichprobenartige Erhebungen der Ct Werte weisen darauf hin, dass bis zu 50% der positiven Tests von Patienten stammen, die wegen hoher Ct werte nicht als infektiös angesehen werden.

Ob das RKI über eine systematische Zusammenstellung zumindest aus eigener Diagnostik und/oder aus der Analyse einzelner Labore und Labororganisationen verfügt, konnte nicht geklärt werden. Die Notwendigkeit der systematischen Erhebung und Auswertung der Ct Werte zur Beschreibung des Ausbreitungsgeschehens hat auch das RKI erkannt.

  1. Das Robert Koch Institut

Das Robert Koch Institut RKI ist als nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen in § 4 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz – IfSG- ausdrücklich genannt. Eine der Kernaufgaben des RKI ist die epidemiologische Surveillance, also die fortlaufende systematische Sammlung, Analyse, Bewertung und Verbreitung von Gesundheitsdaten zum Zweck der Planung, Durchführung und Bewertung von Maßnahmen zur Krankheitsbekämpfung. Die Rechtsprechung geht seit der Entscheidung des VerfGH München vom 26.3.2020 davon aus, dass den Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts im Bereich des Infektionsschutzes besonderes Gewicht zukommt (vgl. im Einzelnen VerfGH vom 26.3.2020 NVwZ 2020, 624 Rn. 16; BVerfG vom 10.4.2020 – 1 BvQ 28/20 – juris Rn. 13; vom 10.4.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris Rn. 13). Seit diesem Urteil ist das Urteil des RKI weitgehend der richterlichen Kontrolle entzogen, obwohl zu Beginn der Ausbreitung das RKI erhebliche Schwächen erkennen ließ, die strukturelle Meldeverzögerung statistisch in den Auswertungen zu kompensieren. Dass es deswegen zu einer erheblichen Verfälschung in der Darstellung des epidemischen Geschehens kam, gestand das RKI erst im April 2020 ein. Die Probleme scheinen unverändert vorhanden.

  1. Rechtlicher Hintergrund

1) Datenauswertung

Das Infektionsschutzgesetz definiert in § 28a,  wie zuvor bereits in zahlreichen Landes Coronaschutzverordnungen, bestimmte Eingriffsschwellen anhand der Inzidenz von je 35 oder 50 „Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen“. Der Gesetzgeber hat genauso wie der jeweilige Verordnungsgeber in den Ländern auf eine Legaldefinition in § 2 IfSG verzichtet, was unter „Neuinfektionen innerhalb der letzten sieben Tage“ zu verstehen ist. Das mag der Übereilung im Gesetzgebungsverfahren geschuldet sein.

Es bestehen hinlänglich diskutierte, aber unberücksichtigt gebliebene Zweifel, ob der Begriff dem staatsrechtlichen Bestimmtheitsgebot in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügt, weil die Zahl der positiven Tests sowohl von der Zahl der durchgeführten Tests, also der variablen Kapazität, als auch der Teststrategie, also entweder anlasslos in einem Querschnitt der Bevölkerung mit geringer Infektionswahrscheinlichkeit,  oder in einem erkannten Infektionsumfeld mit hoher Infektionswahrscheinlichkeit, abhängig ist. Die Verwendung von Schnelltests und – für den Fall, dass dieser ein positives Ergebnis anzeigt – anschließendem PCR Test, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines positiven PCR Tests drastisch.

Wesentlich für diese Betrachtung ist aber, dass die „Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen“ grundrechtsrelevante Eingriffe der öffentlichen Gewalt zur Abwendung einer Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung und die Belastung des Gesundheitswesens rechtfertigen sollen. Aus diesem Zweck heraus muss es sich bei dem Index um eine aktuelle und zutreffende mathematische Beschreibung der epidemischen Lage der vergangenen Woche handeln, also weder eine Beschreibung einer in der Vergangenheit liegenden epidemischen Situation noch eine durch Kapazität des Meldeweges beeinflussbare mathematisch statistische Wirklichkeitsbeschreibung. Diesen Anforderungen werden die täglichen Auswertungen des RKI nicht gerecht.

Die Abweichung zwischen den täglichen Lageberichten und der Zahl der tatsächlich den letzten 24 Stunden vor der Veröffentlichung zuzuordnenden Fällen ist gewaltig. 

Der Grund ist einfach:

Das RKI klärt im täglichen Lagebericht auf: Die Differenz zum Vortag bezieht sich auf das Eingangsdatum am RKI; aufgrund des Übermittlungsverzugs können Fälle aus vorangegangenen Tagen darunter sein.

Das ist richtig, aber nicht vollständig. 

Tatsächlich erfasst das RKI die Infizierten und die Toten zu zwei Daten, dem sogenannten Referenzdatum, vermutlich das tatsächliche Datum des Todes, und dem Meldedatum, dem Eingang der Todesmeldung beim Gesundheitsamt. 

Veröffentlicht wird vom RKI im täglichen Lagebericht aber weder die Zahl der am Tag zuvor mit Referenzdatum oder Meldedatum gekennzeichneten Fälle, sondern lediglich die Differenz zwischen allen erfassten Todesfällen bis zu einem Tage gegenüber allen erfassten Todesfällen bis zum  Vortag und zwar unabhängig vom Sterbedatum und dem Meldedatum.

Es handelt sich also tatsächlich nur um die am Vortag bearbeiteten Fälle. In den vom RKI gleichfalls zum Download bereit gehaltenen Rohdaten des dashboard ist erkennbar, dass die tatsächlichen Todesdaten und die Meldedaten an je unterschiedlichen Daten zum Teil Monate zurückliegen. In den täglichen Lagebericht fließen in erheblicher Zahl Neuinfektionen und Todesfälle ein, die Monate zurückliegen.

Die Daten, die das RKI täglich im dashboard visuell dargestellt veröffentlicht, können im .csv Format runtergeladen werden. In der Tabelle sieht man die jeweiligen echten Referenz- und Meldedaten und deren Zuordnung zum Berichtsdatum, allerdings nur im Fließtext, in dem die Tabellenfelder durch Semikolon getrennt sind.

https://npgeo-corona-npgeo-de.hub.arcgis.com/datasets/dd4580c810204019a7b8eb3e0b329dd6_0

Das sieht z.B. so aus

217502,5,Nordrhein-Westfalen,SK Bochum,A05-A14,M,1,0,2020/09/30 00:00:00,05911,“18.12.2020, 00:00 Uhr“,0,-9,2020/09/30 00:00:00,0,1,0,Nicht übermittelt

Die Tabelle hat über 756.147 Zeilen, eine APIS Schnittstelle ist verfügbar. Stichprobenartige Überprüfung lässt bereits erhebliche Abweichungen zwischen Sterbedatum und Berichtsdatum erkennen. Für eine Quantifizierung müssen die Daten exportiert und mit Filtern den jeweiligen Ereignissen und Tagesdaten zugeordnet werden.

In der nachfolgenden Tabelle sind die Daten der täglichen Lageberichte des RKI seit dem 1.11.2020 den Rohdaten des RKI mit dem Datenbestand vom 13.12.2020 gegenübergestellt, die der Softwareentwickler Martin Adam aus Berlin zugeordnet hat.

    Angabe täglicher Lagebericht Dartstellung im Dashboard tatsächlich nach Refdatum
Gesamt        
  Bestätigte Fälle Vortag 1.379.238 1.378.770  
  Bestätigte Fälle 1.406.161 1.405.856  
  Differenz zum Vortag 26.923 16.876 13.630
  Verstorbene bis Vortag 23.427 23.419  
  Verstorbene Berichtdatum 24.125 24.120  
  Rechnerische Differenz 698 701 17
Letzte 7 Tage        
  7 Tage Fallzahl   148.899 120.799
  7-Tage-Inzidenz   179 145,2
  Einwohnerzahl 83.166.711    

Die zum Teil sehr große Abweichung gegenüber den täglich publizierten absoluten Zahlen, bei denen es sich nur um die Gesamtheit der bearbeiteten Daten handelt, ist erkennbar. Ungefähr nach drei Wochen und länger nähern sich die Zahlen dem tatsächlichen Geschehen langsam an, je mehr Fallzahlen bearbeitet werden, die den Referenzdaten tatsächlich zugeordnet werden können. Auch die schon lange zurückliegenden Daten ändern sich in der Historie täglich. 

Das RKI teilt auf ausdrückliche Nachfrage mit, dass es keine Informationen über die durchschnittliche Zahl der „neuen Verstorbenen“ hat, die nicht am Vortag verstorben sind und auch keine Information, wie groß die durchschnittliche Meldeverzögerung ist. Eine nach Sterbedatum sortierte Auswertung ist nicht verfügbar. Das RKI verweist in der Antwort auf die Auswertung nach Sterbewoche, die auf der homepage abrufbar ist. In der 51 KW war die neuste Auswertung jene der 46 KW, in der sich aber weder die bis zur 51 KW in den Rohdaten der 46 KW zugeordneten Toten nach Referenzdatum noch nach Meldedatum wiederfinden. Wie sich die Zahl zusammensetzt, ist nicht zu rekonstruieren. Eine weitergehende Stellungnahme unter Vorlage dieses Berichts lehnte das RKI ab.

Um es anders auszudrücken: Die Zahl der neuen Fälle ergibt sich nicht aus dem epidemiologischen Geschehen, sondern ausschließlich aus der zeitlich nicht bestimmbaren Datenbearbeitung der Labore und Ämter in der Meldekette. Die jeweiligen Daten haben wegen der nicht bestimmbaren Übermittlungsverzögerung am Tag der Veröffentlichung durch das RKI keinen sinnvollen Erklärungswert über das aktuelle Ausbreitungsgeschehen. 

Die Abweichungen bei der Zahl der Neuinfektionen und bei den Sterbefällen bleiben auch nach mehr als 30 Tagen so signifikant, dass sie zur Bestimmung der Eingriffsschwellen nach dem IfSG selbst dann noch keine Verwendung finden dürfen und als Beurteilungsgrundlage politischen Handelns nicht dienen sollten. Entwicklungen werden bei ansteigenden Zahlen sowohl zu spät erkannt, um noch wirkungsvoll eingreifen zu können und bei zurückgehenden Zahlen nicht so rechtzeitig, wie Lockerungen zur Entlastung der Bevölkerung möglich wären.

2) Verwendete Testverfahren

Eine grundrechtsrelevante Maßnahme der öffentlichen Gewalt zur Gefahrenabwehr muss sich zunächst immer gegen den Störer richten, also gegen denjenigen, von dem eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, oder hier ein Infektionsgefahr ausgeht. Das ist nach hier vertretener Auffassung nicht jeder Virusträger, sondern nur der Virusträger, der auch in der Lage ist, eine Virusmenge in einer für eine Replikation des Virus bei einer dritten Person erforderlichen Qualität und Quantität zu übertragen, also als infektiös gilt. 

Nach der Rechtsprechung sind Maßnahmen gegen Nichtstörer nur dann zulässig, wenn ein Vorgehen gegen Störer allein nicht ausreicht, oder Störer und Nichtstörer nicht zuverlässig voneinander unterschieden werden können. Diese Rechtfertigung ist Grundlage der Mehrzahl der Maßnahmen zur Beschränkung der Ausbreitung von SARS CoV-2. Nach hier vertretener Auffassung ist Infektiös/Nichtinfektiös – Störer/Nichtstörer generell als Unterscheidung anhand einer Bandbreite von Ct Werten möglich.

Das RKI erläutert auf der Homepage:

 Es liegt ein Zusammenhang zwischen Ct-Wert in der RT-PCR und Anzüchtbarkeit in Zellkultur nahe, der z. B. bei der Bewertung von anhaltend positiven PCR-Ergebnissen hilfreich sein kann. Aus veröffentlichten Untersuchungen lassen sich “cut-off” Werte im Bereich von <10^6 Genomkopien/ml (van Kampen et al., 2020; Wolfel et al., 2020) bzw. Ct-Werte im jeweils verwendeten Testsystem von 31 – 34 ableiten (Arons et al., 2020; La Scola et al., 2020; National Centre for Infectious Diseases and Chapter of Infectious Disease Physicians / Academy of Medicine in Singapore, 2020).

Ergebnisse aus der Diagnostik am RKI zeigen, dass der Verlust der Anzüchtbarkeit in Zellkultur mit einer per real-time PCR ermittelten RNA Menge von <250 Kopien/5 µL RNA-Eluat einherging. Diese RNA-Konzentration entsprach im verwendeten Testsystem einem Ct-Wert >30

Es ist bekannt, dass der Ct Wert von 30 kein starrer Wert ist, sondern vom verwendeten Testverfahren abhängt und es sich deshalb eher um eine Bandbreite von >30 – >34 handeln dürfte. Das RKI sieht zumindest von einer Quarantäneempfehlung bei Werten >30 im Rahmen des Entlassmanagement ab.

Die Beachtung der Ct Werte erachtet auch die WHO als notwendig: „ WHO guidance Diagnostic testing for SARS-CoV-2 states that careful interpretation of weak positive results is needed (1). The cycle threshold (Ct) needed to detect virus is inversely proportional to the patient’s viral load. Where test results do not correspond with the clinical presentation, a new specimen should be taken and retested using the same or different NAT technology.
https://www.who.int/news/item/20-01-2021-who-information-notice-for-ivd-users-2020-05

Hohe Ct Werte können sowohl vor als auch länger nach der Phase der Infektiosität auftreten. Zu berücksichtigen ist, dass Patienten je nach Schwere der Symptome 10 -14 Tage infektiös sind, aber von ihnen bis zu 8 – 10 Wochen nach Symptombeginn ein positiver PCR Test gewonnen werden kann. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein positives PCR Testergebnis von einem nichtinfektiösen Patienten stammt, ist daher deutlich größer als die Wahrscheinlichkeit seiner Infektiösität.

Der Laborverbund Dr. Kramer und Kollegen teilt auf Anfrage von NDR/WDR Anfang September mit, dass von den 963 positiven Proben seit Ende Juli fast jede zweite einen Ct-Wert von 30 oder mehr gehabt habe. In den USA erfolgte nach einem Bericht der NYT eine Auswertung in drei Bundesstaaten, bei der bis zu 90% der erhobenen PCR Tests Ct Werte von >30 hatten, also von nicht infektiösen Patienten stammen.

Michael Mina, Epidemiologe an Harvard University’s T.H. Chan School of Public Health wird wie folgt zitiert:

He adds that contact tracers should triage their efforts based on CT values. “If 100 files land on my desk [as a contact tracer], I will prioritize the highest viral loads first, because they are the most infectious,” Mina says.

Broad access to CT values could also help epidemiologists track outbreaks, Mina says. If researchers see many low CT values, they could conclude an outbreak is expanding. But if nearly all CT values are high, an outbreak is likely waning. “We have to stop thinking of people as positive or negative, and ask how positive?” Mina says.

CT values could also help clinicians flag patients most at risk for severe disease and death. A report in June from researchers at Weill Cornell Medicine found that among 678 hospitalized patients, 35% of those with a CT value of 25 or less died, compared with 17.6% with a CT value of 25 to 30 and 6.2% with a CT value above 30. In August, researchers in Brazil found that among 875 patients, those with a CT value of 25 or below were more likely to have severe disease or die.

https://www.sciencemag.org/news/2020/09/one-number-could-help-reveal-how-infectious-covid-19-patient-should-test-results

Untersuchungen in Massachusetts spiegeln (nach Hay et al; Estimating epidemiologic dynamics from single cross-sectional viral load distributions, 2020 https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.08.20204222v1) die veränderlichen Ct Werte bei den Tests auf der Ebene einer Population die epidemische Dynamik wieder. (Although at the individual level measurement variation can complicate interpretation of Ct values for clinical use, we show that population-level properties reflect underlying epidemic dynamics. In support of these theoretical findings, we observe a strong relationship between the time-varying effective reproductive number, R(t), and the distribution of Cts among positive surveillance specimens, including median and skewness, measured in Massachusetts over time.)

Die Auswertung der im Zeitraum vom 20.3. bis 20.6. bei ca. 5036 positiven PCR Tests erhobenen Ct-Werte in Rhode Island USA zeigt außerdem einerseits einen steigenden Anteil von Tests mit Ct Werten > 30 und dann einen um ca. 21 Tagen folgenden signifikanten Abfall der schweren Verläufe und Fallzahlen. Der Gesamt Anteil der Test mit einem Ct Wert >33 betrug 36,2% https://rifreedom.org/2020/12/covid-19-ct-values-better-public-policy/.

Die systematische Beobachtung der Ct Werte erlaubt damit mit großer Wahrscheinlichkeit eine genauere Prognose der Anteile der Patienten mit einer hohen Viruslast mit der Gefahr eines schweren Verlaufs, der Belastung der Intensivstationen und hoher Infektiosität. Erhoben werden diese Daten nicht.

Das Gesetz unterscheidet außerdem nicht nach der Art der Testverfahren. 
PCR Tests gelten noch als Standard mit hoher Sensitivität und Selektivität. Antigen Schnelltest bleiben bei der Genauigkeit zurück, liefern aber ein Ergebnis innerhalb von 15 Minuten und lassen eingeschränkt eine qualitative Aussage zu, da sie erst bei einer Viruslast im Probenmaterial positiv reagieren, die üblicherweise mit Replikationsfähigkeit und damit Infektiösität in Verbindung gebracht werden.

Eine hohe Zahl neuer positiver Antigen Schnell Tests beschreibt zumindest eine Verbreitung, die mit einem höheren Risiko der weiteren Ausbreitung einhergeht, als eine gleich hohe Zahl neuer positiver PCR Tests mit Ct Werten jeweils > 30 – >34. Es scheint, als würden die Gesundheitsämter nur die Zahl der positiven PCR Tests als Neuinfektionen melden, definiert ist dies aber nicht, abweichende Behandlung nicht ausgeschlossen. Relevant ist jedenfalls die Beeinflussung der Verwendung der Schnelltests für die Erhöhung der Vortestwahrscheinlichkeit bei der Verwendung der PCR Tests.

Aus rechtlicher Sicht bedarf es daher einer Definition, nach der der Ct-Wert zwingend von den Laboren über den Meldeweg weiterzugeben ist. Sofern nach einem standardisierten Verfahren Patienten mit einem Ct Wert >30 nicht als in der Lage gelten, replikationsfähige Viren weiter zu geben, also bei einem Dritten eine Infektion zu begründen, dürfen sich grundrechtsrelevante Maßnahmen gegen sie nur richten,  soweit ein Infektionsverdacht bestätigt oder widerlegt werden soll. Allein die Feststellung der Unterschreitung eines Wertes von 30 oder eine Bandbreite von 30 bis 34 lässt noch keine Feststellung zu, ob der Patient sich in einer präsymptomatischen Phase befindet und noch infektiös werden kann, oder postsymptomatisch dauerhaft nicht mehr infektiös ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt aber für diesen Fall weitere Aufklärung durch Nachtest. Steht fest, dass der Proband nicht infektiös ist, dürfen diese Fälle in die Berechnung der Eingriffsschwellen des IfSG oder der Coronaschutzverordungen nicht eingehen, weil von Ihnen keine Gefahr ausgeht und ihre Zahl in rechtlicher Hinsicht nicht beachtlich ist.

Die systematische Auswertung der Ct Werts erscheint geeignet im rechtlichen Sinne Störer von Nichtstörern zu unterscheiden. Eine solche Auswertung verspricht zudem eine höhere Prognosesicherheit hinsichtlich des zu erwartenden weiteren Verlaufs des Ausbreitungsgeschehens und der Belastung des Gesundheitssystems, sodass nach hier vertretener Auffassung eine Pflicht zur Erhebung dieser Daten bei jedem einzelnen und in der Gesamtheit besteht.

Mehrere international Studien bestätigen dies:

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.25.20219048v1.full.pdf

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.08.20204222v1.full.pdf

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.01.13.21249721v1.full.pdf

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1201971220321652

Umso verwunderlicher ist, dass das RKI entweder die vorhandenen Daten nicht nutz – oder so der Eindruck – die vorhandenen Auswertungen nicht veröffentlicht.

Auf Nachfrage vom 7.10.2020 haben das RKI am 9.11.2020 und Gesundheitsamt Bochum bestätigt, dass im behördlichen Meldeweg eine systematische Erhebung und Auswertung nicht erfolgt. Die Gesundheitsministerin BAYERN und des Bundes haben eine Anfrage trotz einer gesetzlichen Verpflichtung nach dem Informationsfreiheitsgesetz unbeantwortet gelassen. Das Ministerium Arbeit Gesundheit und Soziales NRW teilt mit,

„Der Ct-Wert lässt Rückschlüsse auf die tatsächlich vorhandene Menge des viralen Erbguts und damit die Konzentration des Coronavirus im Probenmaterial zu. Die Virenkonzentration beeinflusst, wie ansteckend eine infizierte Person ist. (…) Dem MAGS liegen keine Informationen darüber vor, wie hoch der jeweilige Ct Wert bei an das MAGS übermittelten Anzahl neu gemeldeter Infektionen mit CARS-CoV 2 liegt.“

Die ergänzende Nachfrage an das RKI, ob auf andere Art gewonnene Erkenntnisse aus der eigenen Diagnostik oder der Studienlage aus Laboren solche Erkenntnis vorlägen, wurde ausdrücklich nicht beantwortet.

Der Vorsitzender des ALM e.V. – Akkreditierte Labore in der Medizin – wollte die Frage nicht beantworten, ob dort eine systematische Erhebung und Auswertung der Ct Werte unter den Mitgliedslaboren erfolgt. In den Medien wird er als Gegner einer systematischen Auswertung zitiert.

Namhafte Virologen haben Anfragen vom 1.12.2020 leider unbeantwortet gelassen, ob sie:

aus den von mir genannten oder aus anderen Gründen eine systematische Erhebung und Auswertung der Ct Werte bei den PCR Tests für sinnvoll halten, oder befinde ich mich eher im Irrtum und die Auswertung ist nicht sinnvoll?

Verfügen Sie aus Ihrem oder aus anderen Laboren über solche Daten?

Wenn ja, wie hoch ist der Anteil der Testergebnisse an der Gesamtzahl der durchgeführten Tests mit positivem Ergebnis

a.          des letzten vollständigen Zeitabschnitts, für den sie die Daten erheben und auswerten (Woche/Monat)

b.         der letzten Zeitabschnitte, für die sie die Daten erhoben haben, der letzten sechs Monate.

Erkennen Sie aus einer möglichen Veränderung der Quote einen Unterschied im Erklärwert der positiven PCR Tests für die Ausbereitung des Virus und die Gefahr der weiteren Ausbreitung?

In dem Pressebriefing vom 19.11.2020 erklärte Prof. Wieler, dass das RKI mit dem Labor der Charité bereits einen Standard zur Eichung der Ct Werte entwickelt habe.

Wieler zufolge haben bereits 200 Labore in Deutschland den Standard zur Eichung der PCR erhalten. Er hoffe, dass möglichst alle Labore diesem Vorbild folgen, denn man könne sie nicht dazu verpflichten. Aber „ich bin sicher, dass sich die Mehrheit der Labore bis Ende des Jahres anschließen wird“, zeigte sich Wieler optimistisch. 

Auch die Aussage auf der Homepage des RKI:
“ Ergebnisse aus der Diagnostik am RKI zeigen, dass der Verlust der Anzüchtbarkeit in Zellkultur mit einer per real-time PCR ermittelten RNA Menge von <250 Kopien/5 µL RNA-Eluat einherging. Diese RNA-Konzentration entsprach im verwendeten Testsystem einem Ct-Wert >30 „

ist mit der Auskunft des RKI an den Unterzeichner ist nicht vereinbar. Die zitierten Erkenntnisse sind ohne systematische Erhebung und Auswertung der in der Diagnostik gewonnenen Ct Werte nicht zu erzielen.

Die Auskunft des RKI an den Unterzeichner nach dem Informationsfreiheitsgesetz ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch.

IV. Ergebnis

Der Übermittlungsverzug von Fallzahlen in der amtlichen Meldekette bis hin zum RKI entwertet die Aussagekraft der Zahlen im täglichen Lagebericht des RKI weitgehend.

Auswertungen über die durchschnittliche Abweichung nach Zahl und Dauer liegen nicht vor, bei der Zahl der Verstorbenen sind diese dem RKI selbst unbekannt. Die Berichterstattung lässt eine hinreichend korrigierende Schätzung nicht erkennen. Die Nowcast Methode scheint das Problem nicht zu lösen, weil sie ihrerseits auf Ereignisdaten unbekannten Alters zurückgeht.. Die Abweichungen zwischen den vom RKI zum Download angebotenen historischen Nowcasting Zahlen und den mit dem Datenbestand 15.12.2020 tatsächlich den einzelnen Tagen zuzuordnenden „neuen Infektionen“ lassen immer noch Abweichungen von bis zu 20% erkennen. Die Auswertungen sind zur statistischen Beschreibung der Epidemie nicht geeignet und dürfen zur Berechnung der Eingriffsschwellen des IfSG nicht dienen.

Angesichts der Tragweite politischer Entscheidungen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid-19 Epidemie müssen die Statistiken eine zeitnahe Beschreibung der Entwicklung ermöglichen, anderenfalls Entscheidungen gegenüber den auslösenden Ereignissen nur mit großer Verzögerung möglich sind. Die Wirksamkeit ergriffener Maßnahmen ist nicht messbar, wenn bereits zeitliche Korrelationen nicht erkennbar gemacht werden können. Das ist mit dem Anspruch effektiver Maßnahmen zur Epidemie Bekämpfung nicht vereinbar.


Aus rechtlicher Sicht bedarf es dringend der Unterscheidung der positiven PCR Tests nach ihren Ct- Werten sowohl bei dem individuellen Testergebnisse und den Maßnahmen gegen einzelne Personen, wie auch zur Bewertung des epidemischen Geschehens. Stichpunktartige Auswertungen lassen vermuten, dass der Anteil der Patienten, deren Ct Werte mit fehlender Anzüchtbarkeit und damit fehlender Infektiösität in Verbindung gebracht wird, relevant ist (mutmaßlich je nach Phase der Epidemie> 30%). Ob das RKI und/oder einzelne Labore über solche Daten für Phasen in der Vergangenheit oder Gegenwart bereits verfügt, bedarf dringender Aufklärung, die für den Autor nicht zu erreichen war.