Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in dem Verfahren VI-6 W 1/22 [Kart] Brenna Huckaby gegen International Paralympics Comittee eV die Begründung des Urteils vom 20.01.2022 den Parteien am 31.01.2022 zugestellt. 

Das IPC wurde im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung verurteilt, Brenna Huckaby bei den am 4.3.2022 startenden Paralympic Winter Games Bejing 2022 an den Snowboard Wettbewerben in der Klasse LL-2 teilnehmen zu lassen, gleichwohl sie selbst der Klasse LL-1 für Teilnehmerinnen mit einem höheren Grad der Behinderung angehört.

Richtig ist, dass das Urteil unmittelbar Rechtskraft nur entwickelt zwischen den am Verfahren beteiligten Parteien. Die Begründung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beruhte aber in erster Linie auf abstrakt generellen Erwägungen über den Zweck eines Sportverbandes, insbesondere eines paralympischen Sportverbandes, der nach seiner Satzung den Zielen der Inklusion folgt und grundsätzlichen Problemen der Diskriminierung. Dem folgt auch die Urteilsbegründung. 

Die Anfrage von Brenna Huckaby hat auch den Unterzeichner im ersten Moment in seinem eigenen stereotypen Verständnis über Wettkampfklassen konfrontiert. Gerade bei Menschen nicht mehr ganz jungen Alters hat die eigene Sozialisation im Sport und der Konsum von Sportereignissen in der Vergangenheit ein Verständnis geprägt, dass in der Mehrzahl der Sportarten von klarer Geschlechtertrennung und einer strikten Klassifikation hinsichtlich Alter und erkennbarem Grad der Beeinträchtigung geprägt war. Das wird allerdings einem komplexeren Verständnis von Inklusion nicht gerecht.

Trotz der begrüßenswerten und beizubehaltenden Autonomie der Verbände ist natürlich auch der Sport nur Teil einer komplexer werdenden Lebenswirklichkeit, in der Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, aber auch der Integration von Menschen mit unterschiedlichen Erscheinungen von Beeinträchtigungen zu Recht zunehmenden Raum einnehmen. Ein starres Regelsystem  wird den Anforderungen nicht gerecht.

Der internationale paralympische Sport versucht mit dem eigenen Klassifikationssystem dem Grunde nach Wettbewerbsgerechtigkeit in den einzelnen Leistungsklassen und damit eine ähnliche Siegwahrscheinlichkeit aller Teilnehmer sicherzustellen. Das ist gut und richtig. Das Problem ist nicht nur in diesem Fall von Brenna Huckaby (und Cecile Hernandez) aus dem Umstand entstanden, dass dem Verband strikte Regelkonformität wichtiger wird, als die Erreichung des mit der Aufstellung der Regeln verfolgten Ziels. Das ist ein Phänomen, dass man bei fast bei allen sozialen Systemen- und auch um ein solches handelt es sich bei einem Verband- über die Zeit hinweg beobachten kann. Man nennt es auch Sturheit. Der Antrag auf Erlass einer Verfügung und das Urteil des OLG Düsseldorf bricht genau dieses System auf.

Die Autonomie der Verbände geht nicht weiter, als das, was für die Erreichung ihrer legitimen Ziele erforderlich, geeignet und im Einzelfall auch angemessen ist. 

Legitime Ziele eines Sportverbandes sind der Schutz der Integrität des Sports, der regelkonformen Ausübung des Sports, der Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Sportler, die Chancengleichheit für Sportler, die Ehrlichkeit und Objektivität des Wettkampfes sowie die ethischen Werte des Sports. Dieser Wertekanon wird gerade bei dem paralympischen Verband ergänzt durch die Verhinderung jeder Form von Diskriminierung und die Verwirklichung der Inklusion. Die Ermöglichung von Teilhabe geht vor Selektion. 

Das Wesen des Sports ist die Ermittlung eines Siegers im sportlichen Wettbewerb unter normierten Ausgangsbedingungen. Die Herstellung normierter Ausgangsbedingungen dient der Herstellung sogenannter Wettbewerbsgerechtigkeit, daher die im Wesentlichen bei allen Teilnehmern gleichverteilte Siegwahrscheinlichkeit im Wettbewerb. 

Dabei ist der Begriff der Wettbewerbsgerechtigkeit aus der Struktur des Wettbewerbes an sich und der Gesamtheit der Teilnehmer zu beurteilen, nicht zwingend aus der Perspektive eines Einzelteilnehmers. Die Teilnahme eines strukturell stärkeren Teilnehmers in einem minder qualifizierten Teilnehmerfeld würde den Wettbewerb zwar aus Sicht des leistungsstarken Teilnehmers als „gerecht“ erscheinen lassen, weil dieser über die höhere Siegwahrscheinlichkeit verfügt, nicht aber aus der Perspektive der Gesamtheit des strukturell leistungsschwächeren Wettbewerbsfeldes.

Umgedreht erfordert die Organisation sportlichen Wettbewerbs nicht zwingend eine Verhinderung einzelner leistungsschwächerer Teilnehmer an einem im übrigen stärkeren Teilnehmerfeld und damit einen aufgedrängten Schutz vor der Niederlage. 

Wettbewerbsgerechtigkeit dient dem Schutz der schwächeren vor einzelnen stärkeren Teilnehmern im Wettbewerb, nicht dem Schutz der stärkeren vor den strukturell schwächeren, die mit legitimen Mitteln die Grenzen der eigenen strukturellen Schwäche überwunden haben. Kurz: Durch die Teilnahme eines strukturell schwächeren Athleten an einem Wettkampf hat niemand einen Nachteil.

Das hat das internationale paralympische Komitee verkannt.

Sofern tatsächlich zu wenig Teilnehmer für die Durchführung eines Wettbewerbes in einer Klassifikation mit einem höheren Grad der Beeinträchtigung vorhanden sind, kann die Nichtdurchführung dieses Wettbewerbes gerechtfertigt sein. Sofern allerdings die Art der körperlichen Beeinträchtigung in den unterschiedlichen Klassifikationen weitgehend identisch ist und sich die Klassifikation nur durch den Grad der Beeinträchtigung unterscheiden, so ist für die anderenfalls ausscheidende Teilnehmer der Wettbewerb in der Klasse für einen geringeren Grad der Beeinträchtigung zu öffnen. 

Das so verstandene Regelsystem grenzt die einzelnen Klassifikationen zum Schutz der Schwächeren gegenüber den Stärkeren ab, nicht jedoch gegenüber den potentiell Schwächeren, deren Teilnahmeanspruch im Vordergrund steht.

Die persönlichen Schicksale von Caster Semanya und gerade aktuell der Schwimmerin Lia Thomas in Ohio, USA, sind gegenwärtig noch die Fälle, an denen sich die Geister scheiden. Zukünftig wird sich aber die Sportwelt und damit auch das Sportrecht zugestehen müssen, dass biologisches Geschlecht oder sexuelle Identität, genauso wie unterschiedliche Formen der Beeinträchtigung als solches für die Herstellung von Wettbewerbsgerechtigkeit keine Funktion haben und deshalb als absolutes Unterscheidungskriterium nicht dienen können. Entscheidend ist vielmehr, die mit einer körperlichen Beeinträchtigung oder der Geschlechtszugehörigkeit assoziierten Implikationen im Hinblick auf die potentielle Leistungsfähigkeit im Wettbewerb. Dabei ist sich der Unterzeichner bewusst, dass die notwenige weitergehende Ausdifferenzierung eine überragende Herausforderung darstellt.

Dem OLG Düsseldorf ist zumindest im Fall Brenna Huckaby eine belastbare Lösung des Problems gelungen.

Hier geht es zum Urteil https://wieschemann.eu/urteil-olg-duesseldorf-geschwaerzt-huckaby-vs-ipc-vi-6-w-1-aus-22-kart-vom-20-1-2022-hervorhebung/