Im SPIEGEL berichtet Jörg Kramer in der Ausgabe 49/2008 vom 1.12.2008 über die Entwicklung des Transferrechts der FIFA, den Fall Webster und den Fall Sylva und die Folgen, die das zugrundeliegenden Problem für das aktuelle Transfergeschehen in der Bundesliga, insbesondere für Lukas Podolski haben kann:
Ein unbeachteter Paragraf und ein vergessenes Urteil drohen den Transfermarkt zu erschüttern. Kann Lukas Podolski den FC Bayern im Sommer einfach so verlassen?
Anfang vergangener Woche unternahm der Nationalspieler Lukas Podolski, 23, einen vielleicht letzten Versuch. Von Trainer Jürgen Klinsmann mäßig geschätzt und bei seinem Club Bayern München zumeist nur Ersatz, machte der Stürmer seinen Wunsch nach Veränderung erstmals öffentlich: Noch „im Winter“, also in der nächsten Transferperiode im Januar, wolle er den Verein verlassen.
Die Bekanntmachung führte zwar zur erhofften Gesprächsbereitschaft des FC Bayern, nicht aber zum gewünschten Ergebnis. Manager Uli Hoeneß machte dem Podolski-Berater Kon Schramm unmissverständlich klar: Finden die Münchner keinen geeigneten Ersatz, und danach sieht es derzeit aus, gebe es keine Freigabe aus dem bis 2010 laufenden Vertrag.
Es könnte passieren, dass die Bayern ihre Sturheit noch bereuen. Denn die neuere Rechtsprechung zu Transferregularien im Weltfußball bietet die Möglichkeit, dass Podolski im Sommer auch gegen den Willen des Vereins München verlässt und dies auch noch gegen eine Transferentschädigung weit unter Marktwert. Schuld daran ist ein lange unbeachteter Paragraf. Die Debatte darüber wird bislang nur unter Rechtsgelehrten geführt, aber sie ist geeignet, den ganzen Transfermarkt zu erschüttern.
Im Jahr 2001 nämlich hat der Weltverband Fifa den Paragrafen, Artikel 17, in sein Transferstatut aufgenommen, nachdem die EU-Kommission sich beschwert hatte. Nach dem Bosman-Urteil, das Transferzahlungen für Spieler mit ausgelaufenem Vertrag untersagte, waren die Clubs weltweit dazu übergegangen, fast nur noch langfristige Zeitverträge abzuschließen. Darin sahen EU-Kommissare eine Beeinträchtigung von Freizügigkeit und Berufsfreiheit.
Artikel 17 soll einen Kompromiss darstellen zwischen Freizügigkeit und dem Prinzip der Vertragstreue. Demnach können Spieler einen befristeten Arbeitsvertrag, wie lange auch immer er läuft, schon nach drei Jahren – der sogenannten Schutzzeit – für einen Wechsel ins Ausland einseitig kündigen, ohne eine Sperre zu riskieren. Profis, die bei Vertragsabschluss mindestens 28 Jahre alt sind, dürfen es nach zwei Jahren.
Der Artikel spielte nie eine Rolle, bis zum Fall des Schotten Andrew Webster. Der kündigte 2006 unter Berufung auf diese Regel vorzeitig bei Heart of Midlothian und wechselte zu Wigan Athletic nach England. Die Hearts bestanden, ebenfalls unter Berufung auf Artikel 17, auf einer Kompensation. Sie verlangten fünf Millionen Pfund (damals 7,4 Millionen Euro), in etwa Websters Marktwert. Die Fifa setzte die Entschädigung auf lediglich 625 000 Pfund fest, am Ende entschied der Internationale Sportgerichtshof: Es waren sogar nur 160 000 zu zahlen.
Damit war klar: Wer seinen Spieler vorzeitig unter Anwendung des neuen Kündigungsartikels verliert, bekommt ein verschwindend geringes Transfergeld. Die Regel ist: Es gibt eine Entschädigung nur in Höhe des bis zum Vertragsende ausstehenden Spielergehalts, gegebenenfalls zuzüglich jenes Teils des Anschaffungspreises, der sich noch nicht amortisiert hat. Bei Podolski wären das etwa 3 Millionen Euro fürs Gehalt plus weitere 2,5 für noch nicht abgeschriebene Ablösezahlungen. Weit weniger also als die 10 Millionen Euro, die Bayern für Podolski gezahlt hat.
Niemand weiß, was genau das für die Bilanzen der Clubs bedeutet. Darin werden die Spieler mit ihrem Wert eingestellt, doch der ist nun so unklar wie nie.
Zunächst gab die Deutsche Fußball Liga (DFL) Entwarnung. Nationales Recht sei höher zu bewerten, in Deutschland seien laufzeitgebundene Verträge nicht vorzeitig kündbar. Außerdem könnte einem Spieler, der kündige, bis zur Klärung durch die Gerichte die internationale Freigabe verweigert werden – so würde ein Transfer faktisch verhindert. Denn der interessierte Club wolle den Spieler schließlich sofort.
Dann kam in diesem Jahr der Fall des Senegalesen Tony Sylva. Der Torwart kündigte gemäß Artikel 17 vorzeitig bei OSC Lille in Frankreich, später verpflichtete ihn der türkische Club Trabzonspor. Lille verweigerte die Freigabe, Sylva klagte dagegen bei der Fifa. Und die Fifa-Kommission für den Status von Spielern setzte den Wechsel zwangsweise durch.
Sylvas Bochumer Anwalt Christof Wieschemann hatte herausgefunden, dass nach Fifa-Transferstatut ein Spieler nicht gezwungen werden kann, am Arbeitsvertrag festzuhalten. Und er entdeckte im Dschungel der Statuten und Kommentare noch mehr: dass die strittige Kündigungsregelung nicht nur bei Wechseln ins europäische Ausland gelten könnte, sondern auch bei Transfers innerhalb Deutschlands.
Die DFL hat sich in ihrem Musterarbeitsvertrag den Statuten der Fifa unterworfen, damit, so Wieschemann, sei Artikel 17 Teil des nationalen Arbeitsrechts. Und wenn die DFL gemäß ihrer Lizenzordnung bei Transferstreitigkeiten keine Spielerlaubnis für den neuen Verein erteile, solange keine Einigung oder gerichtliche Entscheidung vorliege, verstoße sie damit gegen Grundsätze eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts. In dem fast vergessenen Fall des Eishockeyspielers Torsten Kienass hatten die Richter 1996 entschieden, dass die damalige Transferregel mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war.
Es gibt Fußballclubs, die haben auf den Kündigungsartikel 17 bereits reagiert. So hat der VfB Stuttgart in den Vertrag mit dem Stürmer Mario Gomez gleich eine Entschädigungssumme für eine vorzeitige Auflösung hineingeschrieben. Die Rede ist von 30 Millionen Euro, deutlich mehr also als jenes Restgehalt, das die Fifa vorsieht.
Podolskis Vertrag in München endet 2010, die Schutzzeit bereits nächsten Sommer. Er könnte dann nach Artikel 17 gegen eine Entschädigung von nur rund 5,5 Millionen Euro wechseln, ins Ausland oder vielleicht nach Köln.
Podolskis Agent Schramm kennt die Auslegung der Juristen. Dennoch würde er derzeit von einer solchen Kündigung abraten. Er will nicht gebrandmarkt werden als derjenige, der das ganze Gebäude zum Einsturz bringt.
Jörg Kramer
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